20
Okt
2022
In den medien Das Ifri in den Medien
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Gastkommentar von Jean-Louis Lozier : Der «Pol des Friedens» schmilzt dahin wie das Packeis: Nur noch die atomare Abschreckung schützt die Arktis vor einem offenen Konflikt

In der nördlichen Polarregion treffen die Interessen der Grossmächte direkt aufeinander. Auch deshalb wollen Schweden und Finnland auf dem schnellsten Weg der Nato beitreten. Jean-Louis Lozier ist Berater am Institut français des relations internationales (Ifri). Er war Vizeadmiral in der französischen Marine und für die Durchführung von Operationen im Atlantik und in der Arktis zuständig.

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Die Arktis, ein Gebiet, das lange Zeit von den geopolitischen Spannungen in der übrigen Welt ausgenommen war, wird durch die verschärfte Rivalität zwischen den Mächten – vor allem den USA, Russland und China – sowie durch den Klimawandel zu einem strategischen Schauplatz, dessen Antlitz sich rasch verändert. Die Region ist für Russland wirtschaftlich und strategisch von entscheidender Bedeutung. Russland investiert massiv in diese Region, um die Ausbeutung von Energieträgern und Bodenschätzen voranzutreiben und den Export auf dem Seeweg zu ermöglichen, hauptsächlich in Richtung der asiatischen Märkte.

Die Arktis zeichnet sich durch ihre extreme Empfindlichkeit gegenüber dem Klimawandel aus. Der letzte Bericht des Weltklimarates (IPCC) zeigt, dass sich die Arktis mehr als doppelt so schnell erwärmen wird wie der Rest der Welt. Das Packeis des Arktischen Ozeans ist in den letzten vierzig Jahren bereits stark geschrumpft, und eine erste Episode des vollständigen Verschwindens wird voraussichtlich noch vor 2050 eintreten.

Mythos der Ausnahme

Diese Entwicklung lässt auf lange Sicht eine stärkere Nutzung der Polarstrassen erwarten, nicht nur um die neuen nordsibirischen Hafengebiete besser mit den Häfen der Importländer zu verbinden, sondern auch um die Häfen des Fernen Ostens mit den Häfen Nordeuropas zu verbinden. Die Arktis bleibt während der Wintermonate vom Packeis eingeschlossen, die Bedingungen für die Schifffahrt sind auch im Frühjahr und im Herbst heikel. So ist es unwahrscheinlich, dass diese rascheren Polarrouten die bestehenden Handelslinien ersetzen werden.

1987 rief Michail Gorbatschow in Murmansk dazu auf, die Arktis zu einem «Pol des Friedens» zu machen. Mit der Gründung des Arktischen Rates im Jahr 1996, in dem die acht Staaten Russland, USA, Kanada, Island, Dänemark, Norwegen, Schweden und Finnland vertreten sind, entstand der Mythos einer «arktischen Ausnahme»: Die Arktis als ein Gebiet der Kooperation, ungestört von sonstigen Interessenkonflikten der Anrainerstaaten. Spätestens mit der russischen Invasion in der Ukraine fand dieser Mythos ein jähes Ende.

Russland ist geografisch, historisch und wirtschaftlich die dominierende Macht in der Arktis. Die Gewässer, über die es seine Souveränität und seine wirtschaftlichen Rechte ausübt, machen 45 Prozent der arktischen Gewässer aus. Diese Region erwirtschaftete vor Beginn der Invasion in die Ukraine fast 15 Prozent des russischen BIP und etwa 20 Prozent der Steuer- und Zolleinnahmen – dies bei einer Bevölkerung, die nur ein Prozent der Gesamtbevölkerung der Föderation ausmacht. Die Öl- und vor allem die Gasexporte tragen den grössten Teil zu dieser Bilanz bei.

Russland hat viel in den Bau von Hafen-, Bergbau-und Gasverflüssigungsinfrastrukturen investiert. Die Energieversorgung läuft über kleine modulare Kernreaktoren zu Wasser und zu Land. Dazu kommen nuklear angetriebene Eisbrecher, um den ganzjährigen Betrieb der nördlichen Seehandelsroutezu ermöglichen. All diese Investitionen könnennur mit Finanzmitteln aus demAusland, nun vorallem aus China und anderen Ländern Asiens, getätigt werden. Um seine Souveränität über den arktischen Raum zu sichern,hat Russland zudem militärische Stützpunkte errichtet, etwa auf der Halbinsel Kola, wo die Nordmeerflotte stationiert ist.

Die USA und andere westliche Staaten haben erst spät auf diesen Aktivismus Russlands reagiert. Die Durchführung einer grossen Nato-Übung in und vor Norwegen («Trident Juncture») 2018 markierte den Beginn einer westlichen Reaktion. Die neue Arktisstrategie der USA äussert sich in häufigeren Übungen der Streitkräfte sowie in der Ankündigung, einen eigenen Botschafter für die Region zu bestellen. Auch andere westliche Staaten haben ihre militärischen Ressourcen in der Region ausgebaut, so etwa Norwegen, Dänemark und Finnland mit dem Kauf von F-35-Kampfjets. Der bevorstehende Beitritt Schwedens und Finnlands zur Nato ist ein weiterer Beleg für eine neue strategische Ära.

Pekings Ansprüche

Auch China bezeichnet sich selber als ein Staat nahe der Arktis und beansprucht dementsprechend einen Anteil an den Ressourcen – Öl, Gas, Mineralien oder Fischbestände. Auch die Nutzung der Seewege (polare Seidenstrasse) ist ein strategisches Anliegen Chinas. Militärisch ist China heute in der Region kaum präsent, dafür ist es politisch und wirtschaftlich sehr aktiv und stützt sich dabei zunehmend auf Russland. Diese Partnerschaft wurde am 4. Februar 2022 anlässlich des Treffens zwischen Präsident Xi Jinping und Präsident Wladimir Putin erneut bekräftigt.

Trotz ihrer ökologischen Anfälligkeit wird sich die arktische Polarregion der Wiederbelebung des Wettbewerbs zwischen den Grossmächten nicht entziehen können. Als Kontaktzone zwischen den beiden mächtigsten Atomwaffenstaaten, als Bindeglied zwischen den strategischen Schauplätzen Euratlantik und Indopazifik und als an Energieträgern und Bodenschätzen reiche Region wird die Arktis künftig wohl noch stärker als bisher zu einer Reibungszone der Mächte.

Dieser Artikel ist verfügbar auf Neuen Zürcher Zeintung.

 

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Arctic Russia