Publié le 03/11/2021

Éric-André MARTIN, zitiert von Gregor Waschinski in dem Handelsblatt

Die scheidende Kanzlerin genießt im Nachbarland ein sehr hohes Ansehen. Dabei waren die deutsch-französischen Beziehungen in ihrer Amtszeit nicht immer einfach.

Beaune Angela Merkels Limousine rollt über das Kopfsteinpflaster in Beaune, einer mittelalterlichen Kleinstadt in der französischen Weinregion Burgund. Ihr Gastgeber ist schon etwas länger da: Emmanuel Macron hat sich bereits mit Bürgern unterhalten, die sich hinter den Absperrgittern drängen. Für Merkel ist die Reise der Abschiedsbesuch. Für den französischen Präsidenten beginnt der Kampf um die Wiederwahl.

Die Menschen jubeln, als Merkel am späten Mittwochnachmittag aussteigt und mit Macron durch die Gassen von Beaune spaziert. „Willkommen im Burgund, Mutti“, ruft ein Mann. Ein Anwohner beschallt die Kanzlerin und ihren Tross aus einem geöffneten Fenster mit der Europahymne, "Freude schöner Götterfunken". „Wunderbar, dass so viele Menschen gekommen sind“, sagt Merkel.

Die scheidende Kanzlerin hatte einen eher nüchternen Blick auf die deutsch-französischen Beziehungen – und sie hinterlässt eine Reihe ungelöster Fragen im bilateralen Verhältnis, die Macron mit der künftigen Bundesregierung klären muss. Doch am Ende ihrer Amtszeit ist Merkel im Nachbarland so beliebt wie nie: 75 Prozent der Franzosen haben laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Ipsos eine positive Meinung von ihr.

In der Rückschau erscheint die Kanzlerin vielen Franzosen als Garantin für Stabilität und als erfolgreiche Krisenmanagerin. Auch Macron zeichnete dieses Bild, als er Merkel einige Stunden nach dem Rundgang in Beaune das Großkreuz der Ehrenlegion überreichte, die höchste Auszeichnung in Frankreich. „Seit Du Kanzlerin bist, hat Dich Frankreich kennen und lieben gelernt“, sagte der Präsident. „In all diesen Jahren hast Du dazu beigetragen, Europa trotz aller Schocks zusammenzuhalten.“

  • Die deutsch-französische Bilanz von Merkel ist allerdings komplizierter. „Es gab Höhen und Tiefen“, sagt Éric-Andre Martin vom Pariser Thinktank Institut Français des Relations Internationales (Ifri). Schwierig wurde es meistens dann, wenn es in der EU ums Geld ging.

Vier Präsidenten während Merkels Amtszeit

Während Merkels 16 Jahren im Kanzleramt regierten vier Präsidenten in Frankreich. Mit Jacques Chirac konnte sie am Ende von dessen Amtszeit kein enges Verhältnis mehr aufbauen. Auch im Umgang mit Nicolas Sarkozy gab es Startschwierigkeiten, ehe sie mit ihm in der Eurokrise das politische Duo „Merkozy“ bildete.

Der Sozialist François Hollande versuchte dann in der europäischen Finanzpolitik auf Distanz zu Merkel zu gehen, durchsetzen konnte er sich aber nicht. Zugleich hat Hollande der Kanzlerin nie ihre Unterstützung nach den islamistischen Terroranschlägen von Paris im November 2015 vergessen.

  • Auch mit Macron und Merkel brauchten einige Zeit, bis sie zueinander fanden. Als der frisch gewählte Präsident in seiner Sorbonne-Rede 2017 eine Reihe von Reformvorschlägen für die EU unterbreitete, wartete er lange vergeblich auf eine Antwort in Berlin. Macrons Politikansatz lebe von visionären Zielen, sagt Ifri-Experte Martin. Merkel regiere „Schritt für Schritt, von Hindernis zu Hindernis“. 

Dennoch hat sich in den vergangenen Jahren eine enge Bindung zwischen der nunmehr geschäftsführenden Kanzlerin und dem aktuellen französischen Staatschef entwickelt. Mit dem Vertrag von Aachen 2019 schufen sie eine neue Grundlage für die deutsch-französische Zusammenarbeit. Macron hievte die Merkel-Vertraute Ursula von der Leyen an die Spitze der EU-Kommission. In der Coronakrise einigten sich Deutschland und Frankreich auf den europäischen Aufbaufonds, der erstmals eine gemeinschaftliche Schuldenaufnahme vorsieht.

„Das Schöne, egal mit welchem Präsidenten ich zusammengearbeitet habe, war immer, dass wir vom gleichen Wertegerüst kommen, aber als ersten Gedanken meistens einen unterschiedlichen Gedanken haben“, sagte Merkel, als Macron sie mit dem Orden der Ehrenlegion auszeichnete. „Und dass es auf diese und jene Weise immer gelungen ist, diese Gedanken zusammenzubringen.“

Reform der Euro-Schuldenregeln noch offen

  • Einige der unterschiedlichen Gedanken ließen sich unter Merkel aber nicht wirklich verbinden: So konnte die Kanzlerin der Forderung von Macron nach mehr europäischer Autonomie in der Sicherheitspolitik eher wenig abgewinnen. „Auch wenn Merkel gesagt hat, Europa müsse sein Schicksal stärker in die Hand nehmen, hat sie den Worten nicht Taten folgen lassen“, sagt Martin. Eine weitere Baustelle, die Merkel ihrem wahrscheinlichen Nachfolger Olaf Scholz hinterlässt, ist die von Paris gewünschte Reform der Euro-Schuldenregeln.

Diese Themen sollten bei Merkels Adieu aber keine Rolle mehr spielen. Aus dem Élysée-Palast hieß es, Macron habe sich einen persönlichen Rahmen gewünscht, abseits der Hauptstadt Paris und ohne Erklärungen zur politischen Aktualität.

Für die abendliche Zeremonie wählte der Präsident ein von Rebstöcken umgebenes Château. Im Anschluss zogen sich Merkel und Macron mit ihren Ehepartnern zu einem privaten Abendessen zurück, ein Sternekoch servierte pochierte Eier in Rotweinsoße und geschmortes Rindfleisch.

 

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