02
Nov
2020
In den medien Das Ifri in den Medien
Marc HECKER, zitiert von Thomas Hanke im Handelsblatt

In der Karikaturenfalle: Der Hass auf Frankreich lässt neue Attentate befürchten

Die Trikolore in Flammen, zertrampelte Fotos von Präsident Macron. Frankreich wird zunehmend Ziel islamistischer Attentäter und hassvoller Demonstrationen. Eine Spurensuche.

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Paris Nach einer Welle von Terroranschlägen und antifranzösischen Demonstrationen in Europa und in arabischen Ländern fürchtet die Regierung in Paris weitere Attentate. In französischen Städten wird die Präsenz der Sicherheitskräfte verdoppelt. Derweil ruft Staatspräsident Emmanuel Macron in einem Interview mit dem arabischen Sender Al Jazeera zur Gewaltfreiheit auf: „Zum ersten Mal gibt es im Ausland, während wir diese Attentate erleben, massive Reaktionen, Drohungen gegen Frankreich, die auf viele Missverständnisse zurückgehen.“

Viele Franzosen reagieren verstört: Statt mit Solidarität sehen sie sich mit Hass konfrontiert, den man bislang allenfalls von antiamerikanischen Protesten kannte: Französische Fahnen werden verbrannt, Fotos von Macron zertrampelt. In den sozialen Netzwerken wird der Präsident als „Teufel Macron“ beschimpft.

Auch andere Länder wie Deutschland, Spanien, Großbritannien und Belgien sind schon Opfer muslimischer Terroristen geworden. In Frankreich aber reißt seit dem 25. September, als ein 25-jähriger Pakistani vor dem früheren Sitz der satirischen Zeitung „Charlie Hebdo“ zwei Personen mit einem Beil angriff, die Kette der Anschläge nicht mehr ab: Im Oktober enthauptete ein 18 Jahre alter Tschetschene den Lehrer Samuel Paty, am vergangenen Donnerstag tötete ein Tunesier drei Menschen in einer Kirche in Nizza.

Woher kommt der Hass? Marc Hecker, Terrorismusexperte beim Französischen Institut für internationale Beziehungen (Ifri), sieht im Wesentlichen vier Gründe:

  • die Kontroverse um die erneute Veröffentlichung der Mohammed-Karikaturen;
  • die französischen Auslandseinsätze von der Sahelzone bis nach Syrien;
  • die französische Kolonialgeschichte;
  • den innerfranzösischen Kulturkampf um die Rolle der Religionen.

Der komplizierteste Punkt sind die Karikaturen. Sie wurden vor 15 Jahren in Dänemark veröffentlicht, viele Medien weltweit zogen nach. „Charlie Hebdo“ veröffentlichte später eigene Zeichnungen, womit die Brüder Saïd und Chérif Kouachi im Januar 2015 ihren Mordanschlag auf die Redaktion begründeten.

Zum Beginn des Prozesses gegen ihre mutmaßlichen Helfer im September veröffentlichte die Zeitung die Karikaturen erneut, was den Anlass für eine neue Welle der Empörung bildete – diesmal unterstützt vom türkischen Präsidenten Erdogan.

Am 25. September folgte die erste Messerattacke, der pakistanische Täter sagte, er habe etwas gegen die erneute Veröffentlichung der Karikaturen unternehmen wollen. Der Tschetschene, der im Oktober den Lehrer Samuel Paty enthauptete, begründete seine Bluttat damit, dass der ermordete Lehrer die Zeichnungen im Unterricht zeigte.

Zeichnungen als politische Falle

Für die Regierung sind die Zeichnungen eine politische Falle geworden. Macron sagte auf der Trauerfeier für Paty, der französische Staat werde immer die Meinungsfreiheit verteidigen, und in Frankreich zähle dazu auch das Recht auf Blasphemie, wie im Falle der Karikaturen. Daraus wurde in islamischen Netzwerken gemacht, Macron habe angekündigt, die Regierung werde die Karikaturen immer wieder veröffentlichen.

Das Problem reicht aber noch weiter. Die Zeichnungen sind zu einem Symbol der Meinungsfreiheit überhöht worden. Als andere Medien inhaltliche Kritik an den Zeichnungen übten, sprach die Charlie-Redaktion von „Verrat“. Die Regierung ist zur Geisel einer Situation geworden, in der eine rationale Auseinandersetzung kaum noch möglich ist.

Nur hinter hervorgehaltener Hand sagen Regierungsmitglieder, was sie wirklich denken: Die Karikaturen seien geschmacklos und politisch kontraproduktiv. Tatsächlich ist es kein besonders feiner Humor, Mohammed nackt auf allen vieren mit herunterhängendem Geschlechtsteil zu zeichnen, während ihm ein Stern aus dem After quillt, mit der Unterschrift: „Mohammed – ein Star ist geboren“.

Doch es geht um sehr viel mehr als um Geschmacksfragen. „Die Karikaturen stellen die Religion in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung, genau das darf nicht geschehen“, sagt ein führender Minister. Denn im Kampf gegen den Terror und seine Hintermänner gehe es nicht um Religion.

„Wir kämpfen nicht gegen eine Religion, sondern gegen ein politisches Projekt, das darauf zielt, die französische Gesellschaft zu beherrschen.“ Der Effekt der Karikaturen aber sei, dass sich viele Muslime stigmatisiert fühlten und der Eindruck entstehen könne, Frankreich wende sich gegen den Islam als Religion.

Kanadas Premierminister Justin Trudeau sagte am Wochenende, auch wenn die Meinungsfreiheit es erlaube, solle man nicht „willkürlich und sinnlos“ Minderheiten verletzen. In Frankreich sind solche Nuancen kaum noch möglich, was letzten Endes den Scharfmachern in die Hände spielt.

Macron ziehe eine scharfe Trennlinie

In seinem Al-Jazeera-Interview hat Macron versucht, sich aus der Karikaturenfalle zu befreien.

Zum ersten Mal sagte er deutlich, dass „nicht die französische Regierung diese Zeichnungen veröffentlicht“ habe, dass er verstehen könne, wenn Menschen sie als beleidigend empfänden, dass er die Meinungsfreiheit verteidige, aber nicht persönlich alles unterstütze, was geschrieben und gezeichnet werde. Er sage nicht, dass die Karikaturen unschuldig gewesen seien. Aber dass so etwas veröffentlicht werden könne, sei wichtig. „Und nun müssen wir verstehen, warum es verletzend gewirkt hat und wie wir die Verständnislosigkeit verringern können.“

Ohne sich von den Karikaturen zu distanzieren, was als Einknicken gewertet würde, zieht Macron eine wichtige Trennlinie: Er verteidigt das Recht auf Meinungsfreiheit, ohne dass er Karikaturen grundsätzlich gutheißt.

Experten sehen in den französischen Auslandseinsätzen in Afrika und Nahost einen weiteren wichtigen Faktor für die Feindseligkeit gegenüber dem Land: „Die Kriege, die Frankreich gegen den islamistischen Terror in Afrika und im Mittleren Osten führt, versuchen die Terrorgruppen mit Repressalien zu beantworten“, sagt Nicolas Cadène, zusammen mit Jean-Louis Bianco Leiter des „Observatoire de la Laïcité“, einer Institution, die die Regierung berät. Auch Marc Hecker vom Ifri weist darauf hin, dass die Dschihadisten „Einsätze wie die im Sahel und in Syrien stets als Kriege gegen die Muslime hinstellen“.

In Syrien haben die Franzosen mit Kampfflugzeugen, Spezialkräften und der Ausbildung und Bewaffnung der Kurden eine wichtige Rolle im Kampf gegen die Terrormiliz IS/Daesh gespielt. Im Sahel kämpft die französische Armee seit Januar 2013 mit mehreren Tausend Soldaten gegen Gruppen, die sich zu al-Qaida oder Daesh bekennen und sich innenpolitische und ethnische Auseinandersetzungen in Mali, Niger und Burkina Faso zunutze machen.

Völlig unzureichende staatliche Infrastrukturen und manche Fehler der nationalen wie auch der französischen Streitkräfte nehmen die Dschihadisten zum Vorwand, um die französischen Truppen als „neue Kolonialarmee“ zu diffamieren.

Die Last der Kolonialgeschichte

Auch das historische Erbe gilt als wichtiger Faktor dafür, dass Frankreich immer wieder zur Zielscheibe von Terroristen wird. Im Zuge der französischen Kolonisierung und der Kolonialkriege in Indochina und im Maghreb kam es zu Gräueltaten der Sicherheitskräfte. Und nicht nur dort: Im Oktober 1961 erschoss und erschlug die französische Polizei mehr als hundert Algerier mitten in Paris, viele wurden in die Seine geworfen, das Massaker wurde vertuscht.

Frankreich bekenne sich zu seiner Schuld, leugne die Verbrechen nicht, die damals begangen wurden, sagte Macron am Samstag. Und es stimmt, dass Politiker, Historiker und Medien die Geschehnisse während und nach den Kolonialkriegen wie auch Frankreichs teils unrühmliche Rolle in Afrika nach der Entkolonisierung laufend aufarbeiten.

Es stimmt allerdings auch, dass Mainstream-Konservative wie der Philosoph Pascal Bruckner mit derselben Häufigkeit sagen: „Hören wir endlich auf, uns zu entschuldigen!“ In Wahrheit sei „der weiße Mann der neue Sündenbock“.

Jugendliche aus dem Maghreb, die heute noch in denselben Vierteln leben, in die Ex-Präsident Charles de Gaulle ihre Großeltern verbannt hatte, werden von muslimischen Eiferern bearbeitet, die ihnen weismachen wollen, es gehe genauso weiter wie vor Jahrzehnten: „Der Westen hat euch misshandelt, erniedrigt, kolonisiert, und noch heute werdet ihr schlecht behandelt“, so brachte Macron im Interview mit Al Jazeera diese Propaganda auf den Punkt.

Derlei Kritik äußern etwa Gruppierungen wie die „Indigènes de la République“ (Indigenen der Republik). Sie behaupten, dass Migranten in Frankreich immer noch so unterdrückt würden wie die Angehörigen fremder Völker während des Kolonialismus.

Solche Gruppen hätten zwar nichts mit Dschihadisten zu tun, sagt Ifri-Experte Hecker.Aber sie behaupten, nichts unterscheide die folternden Soldaten im Algerien des Unabhängigkeitskrieges von den Polizisten im heutigen Frankreich.“ So werde Kolonialgeschichte heute instrumentalisiert, um Stimmung gegen Frankreich zu machen.

In der Republik tobt ein innerer Kulturkampf

Frankreich hat vermutlich den größten muslimischen Bevölkerungsanteil aller EU-Staaten. Offizielle Zahlen gibt es nicht, weil Statistiken aufgegliedert nach Herkunft oder Religion verboten sind, doch Schätzungen lauten auf fünf bis sechs Millionen Menschen mit muslimischem Glauben. Die meisten von ihnen sind vollständig integriert. Sie akzeptieren, dass die Gesetze der Republik über den Geboten des Koran stehen. Doch jüngeren Umfragen zufolge befürwortet eine Mehrheit junger Muslime eine umgekehrte Werteordnung.

Im Jahr 1905 führte Frankreich die Trennung von Kirche und Staat ein, den Laizismus. Doch was die sogenannte „Laïcité“ heute genau bedeutet, darüber gibt es in der französischen Gesellschaft keinen Konsens mehr, und die Trennlinie verläuft nicht zwischen Muslimen und Christen.

Weite Kreise der Konservativen fordern einen Laizismus, der den Islam aus der Öffentlichkeit verbannt: keine Gebete, keine Kopftücher, keine Versammlungen von Muslimen im öffentlichen Raum. „Sie behaupten, es gebe ein Kontinuum von strenggläubigen Muslimen bis hin zu den Terroristen“, berichtet Hecker. Laizismus-Experte Cadène bestätigt: „Ja, es gibt einen Konflikt zwischen mehreren Interpretationen der Laïcité.“

So forderte der frühere Premier Manuel Valls vor einer Woche, Cadène müsse entlassen werden, weil er nicht hart genug gegen Islamisten auftrete. Auf der anderen Seite werfen muslimische Hardliner der Regierung vor, sie verfolge eine „staatlich verordnete Islamophobie“.

Sie schüren damit die Stimmung, Muslime würden wegen ihrer Religion in Frankreich verfolgt. Das behaupten Vereinigungen wie die „Indigènes de la République“, aber auch das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich („Collectif contre l’islamophobie en France“), das Innenminister Gérald Darmanin am liebsten verbieten würde. Er sieht das Kollektiv als geistigen Wegbereiter des Terrorismus.

Terrorismusexperte Hecker hält das für eine gefährliche Grenzüberschreitung: Nicht alles, was politisch zu verurteilen sei, könne man mit Terrorismus gleichsetzen und verbieten. „Vergessen wir nicht: Das strategische Ziel der Terroristen ist es, durch eine Vielzahl von Attentaten eine Überreaktion des Staates und der Mehrheitsgesellschaft zu provozieren.“ Diese Reaktion werde den Terroristen dann bislang gemäßigte Muslime in die Arme treiben, so das Kalkül.

Eine ähnliche Sorge hat der bereits zitierte Minister, der nicht namentlich genannt werden will: „Wir laufen Gefahr, einem radikalen Laizismus anzuhängen, der die Spannungen verschärfen würde.“

Er wünscht sich mehr Unterstützung aus Deutschland. Frankreich dürfe in dieser heiklen Lage nicht das Gefühl bekommen, allein dazustehen. „Wenn die Bundesrepublik Erdogan wegen seiner Hetze gegen Frankreich stärker in die Schranken weisen würde, wäre schon viel gewonnen.“

 

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